Leben in Berlin
Die Leiden der jungen Germanistin S.
Donnerstag, 20. September 2007, 16:55
"So, ick bin fertich mit dem Studium! Hinein ins Arbeitsleben!" Dachte ich... Ja, ich hatte es ja schon öfter gehört, dass Geisteswissenschaftler es schwer haben würden. Aber warum sollte es ausgerechnet mich treffen???

Schließlich kann ich drei Praktika in Online-Redaktionen vorweisen, habe eine gute Schreibe, einen "2"-er Uni-Abschluss, kann mit CMS und Photoshop umgehen, spreche Fremdsprachen und engagiere mich nebenbei in redaktionellen Projekten. Ich bin lern- und arbeitswillig und hochmotiviert.

Das Dilemma fing an, als ich realisierte, dass ich mich seit 3 Monaten als Online-Redakteurin bewarb und nur Absagen erhielt. "Du darfst dich nicht so auf eine Richtung fixieren", sagten mir meine Eltern. Also dachte ich: Naja, Texterin könnte auch was sein. Aber als Texter muss man heute erst einmal ein Volontariat machen, in dem man ausgebildet wird. Zumindest werben 95% der Agenturen damit. Die Mehrheit davon stellt allerdings nur Leute ein, die schon einmal in einer Agentur ein Praktikum gemacht haben.

Dann endlich doch ein Vorstellungsgespräch in einer Firma in Mitte! Doch der Chef hatte offensichtlich keine Lust und schaute auf meinen Lebenslauf, als hätte er ihn noch nie gesehen. Eigentlich wollte er mich schon hinauskomplimentieren, als der Textchef zufällig reinkam. Das Gespräch nahm eine unerwartet lockere Wendung. Ja, sie geben mir Bescheid, ich solle aber nächste Woche vorsichtshalber eine Mail schreiben. Nach zwei Remind-Me-Emails und insgesamt drei Wochen später rief ich an. Die Sekretärin meinte, das könne doch vorkommen und ich solle mich nicht so haben.

Dann ein motivierender Anruf aus einer Dialogmarketing-Firma. Die Chefin war selbst Quereinsteigerin und wusste, wie schwer das sein kann. Ich hoffte, als ich nach Hamburg fuhr und war positiv überrascht: nettes, Gespräch, sympathische Atmosphäre, interessante Kunden, sie fanden meine Schreibe toll. Einen Mini-Copytest müsste ich noch machen.

Dann kam wieder die Absage - eine andere Kandidatin hätte mehr Berufserfahrung.

Nach einem Copytest von S&F, die meinen Lebenslauf "interessant" fanden, hörte ich auf, mich als Texterin zu bewerben: ich will nicht auf Knopfdruck kreativ sein müssen und mir innerhalb von wenigen Tagen eine vollständige Kampagne mit Printprodukten, Radio- und TV-Spots aus den Fingern saugen können, die die Texter-Gurus Deutschlands noch überraschen kann. Ich sagte freundlich ab.

Es tat sehr gut, auch mal diejenige zu sein, die etwas absagen kann.

Dann kam endlich ein Anruf von einem Online-Reisebüro. Der Mann war nett und erklärte sich mit meinen Gehaltsforderungen einverstanden. Allerdings fahre er für 2 Wochen auf Geschäftsreise, er würde sich danach melden. Nach 3 Wochen schreibe ich eine Email. Antwort:

"Aufgrund eines persönlichen Pressekontakts haben wir eine Interimslösung gefunden, und wir werden diese zunächst einmal ausprobieren. (...) Bei erhöhtem Bedarf melden wir uns gern noch einmal bei Ihnen."

Ich warf noch einmal alles über den Haufen und überlegte, ob ich mir nicht über meine Ziele klar bin. Privat schrieb ich derzeit einen Artikel für eine kulturwissenschaftliche Publikation und hatte riesigen Spaß dabei. Die Mischung aus Recherchieren, knurpseln an leserfreundlicher Sprache und Unterhaltung&Information zeckt mich einfach an. Auch die Arbeit mit Menschen ist mir wichtig. Mein Berufswunsch ist immer noch derselbe.

Aber der Arbeitsmarkt ist paradox:

Die einen, die einen arbeiten lassen würden, wollen einen ausnutzen. Vollzeit-Arbeit mit maximalem Ergebnis für möglichst wenig Kosten: 500 Euro in Stuttgart, 750 EUR brutto (590 Euro netto) in Hamburg. In München bewarb ich mich mit einer Gehaltsvorstellung von 1000 Euro netto. "Völlig überzogene Gehaltsvorstellung", antwortete die Personalerin, ich bekäme höchstens 600 Euro brutto. 600 Euro? Das entspricht in München etwa einer Kaltmiete für 55 qm. Ganz besonders dreist: Um die Leute in ein mehrmonatiges Umsonstpraktikum zu locken, versprechen die Firmen die "Möglichkeit einer Übernahme in ein Volontariat".

Die anderen, die einen arbeiten lassen würden, haben den Perfektionsanspruch: Fremdsprachen wie ein Muttersprachler, "perfekte Schreibe", mindestens 3-5 Jahre Berufserfahrung, hohes Engagement, hohe Flexibilität, Global Player- und Teamplayer-Fähigkeiten, Selbstständigkeit und Reisebereitschaft muss man vorweisen können, um ein vernünftiges Gehalt fordern zu dürfen. Was es damit auf sich hat, habe ich bei einem Freund gesehen. Der ist jetzt nur noch auf Reisen und sieht seine Wohnung dreimal im Monat.

In einem Vorstellungsgespräch musste ich mich schließlich fragen lassen, warum ich in meinem Hauptstudium kein Praktikum gemacht habe und mich NUR auf mein Studium konzentriert hätte. So sehr ich einsehe, dass man Fähigkeiten entwickeln und Berufserfahrungen sammeln sollte... aber irgendwie ist das schon pervers, oder?

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